
Schranz
(SURROUNDINGS)
Schlechter geht es nicht. Besser auch nicht. Wild! Pathos. Cuba Libre und Vapes. Armstulpen und rote Haare. Southstar. Ein Vibrator in Eiffelturm Form. FUN. Humor. Gelnägel, Kondome mit Cola Geschmack, Kaffee aus dem Automaten ...
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Liebe Schranz-Gemeinde,
voller Vorfreude sitzen wir auf dem Balkon in Berlin-Mitte.
Auf dem Tisch: Taubenscheiße, kalter selbst gemachter Tee (Ingwer-Zimt-Zucker) und BREAKING NEWS.
Alena ist in Berlin – und ihr wisst, was das bedeutet… SCHRANZ- REUNION.
Aber jetzt zu den guten Nachrichten: Bella hat jetzt ein Urban Sports-Abo und jemand ist gestorben.
Wie kam es dazu? Erzähl doch mal!
Puh. Ich muss ausholen.
Es war ein Freitag und ich badete heiß, als mein Handy in das Klo fiel, weil der Schleudergang der Waschmaschine sehr stark war. Das Waschpulver tanzte wild. Mein Smartphone machte sich während des Falles selbständig und schrieb in eine Gruppe von Whatsapp aus 2018 mit Mia und Laura: >>Geht ihr mit mir ins Kino? Ich muss raus. Raus aus diesem infernalischen Stimmungstief. SOS, please. Someone help me<<. Als ich das Handy greifen wollte, fiel auch ich in die Schüssel und hatte eine ganz neue Sicht, sah, wie tief ich drin steckte… in der … (Räusper.)
Genau Laura war es dann, die mir die Hand reichte und mich herauszog: The blind leading the blind.
>>Warum legst du dir keine Sportsucht zu?<<, fragte sie trocken, nur zwei Stunden später im Sputnik Kino, zwischen Ziegelsteinen, während sie an ihrem Fler Vape zog, als wäre nichts vorgefallen.
Dann nahm sie einfach mein Handy und installierte mir diese App. Von da an musste ich meinen Dusch- und Waschrhythmus, mein Leben neu denken.
BOOT CAMP 50 min oder
Good Vibes Vinyasa - Ich buchte einen Kurs für jeden weiteren Tag. Nun gab es Struktur, auch wenn sie minimal war.
Nun verstand ich, warum so viele Frauen alleine durch Berlin laufen, mit Sport Leggins und Yogamatte, mit weißen hohen Socken und herausgestreckten Ellbogen. Mit roten Wangen. Als würde ihr Leben davon abhängen… tat es auch, wirklich!
Sehr oft hatte ich keine Lust, aber die Stornierungsfrist verpasst. Es war zunächst meistens unangenehm. Ich kotzte nach dem Zirkeltraining bei Storm in den Mülleimer, schwitze mir den Rest an Gift in der Sauna heraus und hing dann am nächsten Morgen in irgendeinem Stoff, eine Art Hängematte von der Wand und dehnte Muskeln, von deren Existenz ich nichts wusste, deren Namen ich nicht kenne.
Reaktives Handeln ist zumindest ein Handeln! sprach ich mir mitfühlend zu.
Und wer hätte das erwartet … dass in den Neuköllner Arkaden bei myshape (neben Aldi), ein Ort, an dem nur Frauen zusammenkommen und ihre Hüllen fallen lassen (und wenn sich doch einmal ein Mann anmeldet, dann gibt es eine Warn-SMS) beim Bauch-Beine-Po Hip-Hop Remix-Kurs, als Laura mir die Zunge herausstreckt, sich jemand mir Nahestehendes, sehr, sehr Nahestehendes, ein heraufbeschworener Eindringling, langsam auflöst, während ich meinen Arsch hochkriege.
Ich muss es zugeben. Ich mochte ihn. Ich wollte ihm ein Zuhause sein. Er war ein echter Satansbraten. Live from Hell. Aber mit ihm konnte ich aufhören gut zu tun, mich dem Destrudo, dem Lustprinzip hingeben, mein 17-jähriges Ich aufleben lassen.
Es geht um Diego, mein altes Ego. Im Vipassana etablierte, verfestigte er sich zuletzt. Seine längere Unterdrückung führte immer wieder zu seiner totalen Machtübernahme, die mich mit Ansage an den Abgrund beförderte.
Gemeinsam katapultieren wir uns in das Jahr meines Traumas und gaben der Dunkelheit seinen Raum.
Noch einmal ließ ich alle Schatten auf mich fallen, suhlte mich im Schmerz.
Ich war eindeutig auf der falschen Seite und es wurde Zeit für den Absprung.
Lieber Diego!
Ich danke dir für diese Monate in der Agonie, die Trigger, die mir gezeigt haben, wo ich unfrei war und bin. In so vielen Punkten - schuldig! Kurz fühlte ich mich durch dich belebt, gesehen und gut unterhalten. Wir hatten Spaß... Du bist verrückt, das mag ich. Unberechenbar. Scharf. Da ist Feuer.
Aber seriously ist das alles krank. Siehst du den Sachaden, du anrichtest, wegen deiner eigenen Unzulänglichkeit?
Du dienst mir nicht, du frisst mich. Ich bin müde und will wieder in den Spiegel schauen.
Wie kann ich das jetzt gut ausdrücken… Lässt du mich gehen? Kann ich dich loswerden?
Bitte, bitte, bitte: VERPISS DICH!
Ciao, Amore Mio -
Bella
Unsere Loslösung zog sich über mehrere Tage. Der tatsächliche Fall, das Abreißen des Pflasters, war dann (wieder einmal) weniger brutal und traumatisierend als die Zeit mit ihm. Ein Plumpsen. Ein Schmunzeln. Ein “Pah!”. Ich landete weich. Im Rasen eines Strebergartens (Ja, ich sage das immer so). Im Moos eines Waldes, weinend in Lauras Küche. Sie kann nicht gut trösten und drückte mir eine Tomate in die Hand.
Alle, ausnahmslos, gratulierten mir zu Diegos Tod, als wäre er mein Geburtstag. Sogar mein Großvater.
Unser letztes Gespräch:
>>Diego, wohin gehst du jetzt? Willst du mir noch was sagen? Eine letzte Umarmung? Ich weiß, dass du es auch nicht leicht hast… <<
Diego grunzte spöttisch: >>Ich verlasSse dich!!LangwEilig!! Bist Du mir gewoRden, dein scheiss ABo, hässliche lila Leggins!!! Du landest in einem HaUs mit Garten und FaMilie und verrotest. Ohne OrgaSmen!!!!! Oh, ich Habe eine ToMate gepflanzt!!! Ich BacKe!! Skin RoUtine von tIKtok bist du 14 oder was??? Viel Spaß mit gesundEn Verbindungen! bIST DU ein Bus??? Date DOCH in BeRlin, haben alle Syphilis, ficken dann ihRe CheFin!!!<<
Ich lachte ein letztes Mal. Er spinnt. Redet Müll, wenn er den Mund aufmacht. Trotzdem wandte ich mich ihm ein letztes Mal ernsthaft, erwartungsvoll zu. Er wusste, dass ich ihn wirklich mochte, in all seiner Hässlichkeit und ich erkannte eine Träne in seinem Auge, eine Rührung. Dann stach er sich ein Messer in den Oberkörper. Er spielte, wie immer, eine Rolle.
DRAMA! Diego hat wirklich Züge von Lars Eidinger, stelle ich belustigt fest. Es tat gut aus der Distanz wieder klar zu sehen, zu spüren wie sich mein Körper entspannt, weil er mir nichts mehr anhaben kann.
**Free**
Free from desire!
>>Fuck!<<, dachte ich trotzdem, hielt mir selbst das Herz. Waren wir nicht doch Eins, für immer verbunden, wie in meiner Illusion?
Dann würgte ich und würgte - und kotzte ihn heraus. Es war …puh ... ekelhaft! Ich sah ihn das erste Mal außerhalb von mir. Er war schleimig, nackt und gekrümmt. Mickrig. Er wird nicht überleben, ohne neuen Wirt. Kurz machte ich mir Sorgen und einen Schritt auf ihn zu.
Diego wich von mir, beschämt von seiner Niederträchtigkeit. Dann zeigte er mir wirklich den Mittelfinger und verschwand im Abfluss meiner Spüle. Wow! Das war's dann wohl.
Schnell schrieb ich in die Gruppe Berlin Mitte 36 Hausgemeinschaft: >>Bitte kurz den Abfluss abdichten, wenn ihr Seelenfrieden wollt. Er, also Diego, ist 17 Jahre alt und auf Beute aus<<
>>????<< schrieb Bettina, die Müllschlichterin, zurück.
>>Falscher Chat<< verteidigte mich der neue, schöne Nachbar.
Als weitere Maßnahme ging ich zur energetischen Reinigung und wurde mit einem Ei eingerieben, mit meiner männlichen Energie verbunden und geheilt. Geht doch. Grinsend lief ich durch die Straße und freute mich auf den 1.Mai Schranz!
Berlin blühte einladend und auffangend. Jetzt kommt meine Zeit.
Meine Zeit:
Familiärer Notfall in Spanien. Ich muss schnell handeln. Jetzt nicht (wie damals) dissoziieren.
Ich bin dieses Mal wirklich nicht überfordert. Ich bin stark. Noch in der Nacht, am frühen Morgen, fliege ich. Der Strom am Brandenburger Flughafen fällt aus und die Menschen werden zu Tieren. Sie geben aggressive Geräusche von sich und drängen, pirschen sich an. Jeder denkt an sich. Das Überleben = der Flieger nach Mallorca. Ein Typ hängt einem anderen an der Kehle, und es riecht metallisch und süß, nach Blut.
Eine Verbündete muss her. Ich freunde mich mit einer kleinen Frau aus Marzahn an. Sie fotografiert belustigt diesen Zoo. Wir bilden eine Einheit, die keine Männer vordrängeln lässt. Wir lachen über die schwitzenden verzweifelten Typen, die in hohen Tönen flehend rufen >>My flight!!<<. Irgendwann verliere ich auch sie bewusst in der Masse, will in Musik abtauchen, tauche erst wieder in Spanien im Krankenhaus wieder auf. Die Geräusche, die Gerüche, die Bilder, die eine Intensivstation bietet, triggern mich. Aber ich schaffe das. Alles. Die Zeit in Spanien vergeht schnell. Es geht gut aus. Jeden Tag jogge ich ein Stück weiter.
Die Message: Rauchen ist tödlich.
Für alle: eine neue Chance.
Für mich besonders: Jetzt etwas aus meinem Leben machen, alles tun, wovor ich Angst habe. Also: Alles.
Zurück in Berlin nutze ich meine Podcast- und Kühlschrank-Postkarten- Motivation und starte selbst eine Verhaltenstherapie. Es ist alles nur ein Spiel. Attrappe. Eine Simulation. Ich klingele ich bei allen Nachbarn, um meine Pakete einzusammeln, stelle mich vor, entscheide spontan, unterbewusst, was ich sage, was und ob ich etwas fragen, sagen, bewirken will. Mit einem Paar klettere ich auf das Hausdach trotz Höhenangst. Die Enge und Isolation endet hier, mit dieser Weitsicht!
Bei dem attraktiven Mann grinse ich kurz, zucke dann mit den Schultern, drehe mich wieder um. Er ist verwirrt, aber lacht. Ich kann keine Energie, keine Zeit mehr verschwenden. Der Fokus liegt jetzt woanders.
Am nächsten Tag treffe ich einen Autor zum Austausch, am hellsten Tag ohne Alkohol. Gruselig. Sein Vater wurde vom Bus überfahren, als er 8 war. Es fällt mir schwer, mich nicht selbst aus der Vogelperspektive zu beobachten, aber ich überlebe auch das. Im Gegenteil ist es belebend. Wir sind ehrlich, sinnieren, ob alles egal ist (im Angesicht des Todes) und kommen auf ein JA und darauf, dass alles so verfügbar ist. Außer ARD-Serien im Ausland.
Simon notiert sich: VOO Store und Tess Gunty - Kaninchenstall.
Ich notiere: Den Autor Hei Lung und Shklar, Der Liberalismus der Furcht.
Als ich mir dann die gegenseitigen Widmungen in unseren Büchern verinnerliche, steigt etwas Hoffnungsvolles in mir auf. Ich brauche, will nichts von ihm, aber freue mich über sein Buch, seine Worte, die ich so gut verstehen kann.
Seine Sprache erinnert mich an Tove Ditlevsen. Auch ich fühle mich nun weniger alleine, wie sie an einer Stelle in Jugend, wegen der ich vor Rührung weinte. Ich fühle mich verstanden, kann meine Angst wieder besser verstehen, eine Verdrängung von Gefühlen, der eigenen Geschichte. Sie gründet in der Frage, ob alles wieder, noch einmal gut wird und ob man selbst reicht, gut, gut genug ist.
Simon ist cool, weil er nicht cool sein will. Wir gehen gemeinsam einkaufen, und ich gönne mir mal wieder etwas: vegane Frikadellen von Rügenwalder Mühle. Nichts ist toxisch, zu aufregend oder verwirrend.
Kräuter auf dem Balkon? Will ich auch!
Selbst Brot backen? Ja, bin dabei. Her mit dem Sauerteigstarter.
Um 23 Uhr schlafen? Gute Idee!
Jeder arbeitet an sich? Muy bien.
Diego würde laut gähnen und Pornos schauen.
Am Abend werde ich vom Tobi gelockt >>Komm in den steppenden Bär - Schranz-Potential. Dortmund spielt<<, und ich komme, weil ich noch Kraft habe, weil ich jetzt überall nüchtern hingehe, auch wenn mein Nervensystem schon etwas im Rücken zieht.
Mich erwartet ein Tisch voller junger Männer. An der Bar noch mehr von ihnen. Ältere. Gefährlicher als Bären?? Ich scanne. Das Fazit: Harmlos.
Tobi und ich haben Rollen getauscht, vor einigen Monaten war er auf Krabben-Diät und trank alkoholfreies Bier. Jetzt gesteht er mir >>Ich habe einfach Bock auf Rausch<<, und ich stehe auf und verkünde:
>>Ich nicht und ich bin kein Fußballfan<<. Die ganze Bar wird still. Ein Typ am Tresen räuspert sich. >>Ja. Ich muss gerade auf mich aufpassen. Auf meinen Geist. Wie geht es euch denn wirklich? Was betäubt ihr? Ihr seht auch alle ziemlich ungesund, rund, aus. Kommt doch morgen mit mir zur Lymphdrainage oder mal eine Runde spazieren!<<
Ein dumpfes Stöhnen geht durch den Laden. Alle schauen starr auf ihr Bier vor sich.
>>Jungfrau MariA höchstpeSÖNLICH. VerrÄteriN<< höre ich aus einer dunklen Ecke besoffen raunen.
>>Diego??<<, meine Stimme bricht. Ich hatte ihn schon fast vergessen, war so beschwingt von der Energie, die ich durch seinen Verlust gewonnen hatte. Er war nicht mehr mein Problem.
Ich bekomme keine Antwort und trinke genau ein kleines Bier, ziehe einmal an Juliens Zigarette. Dann gehe ich. In der Bahn lese ich Simons Buch, kenne den Weg nach Hause, räuchere meine Wohnung mit Salbei aus - und fühle mich dabei gut. Mir fehlt nichts. Mir fehlt Nichts? Ich fühle mich wohl, in Berlin.
JACKPOT.
Die Fenster sind offen und ich liege in Kerzenlicht umhüllt im Bett und meine eigene Gesellschaft ist gut auszuhalten.
>>Warte erstmal auf den Sommer. Nimm den richtig mit!! <<, riet mir Tobi in allen Belangen. Und ich weiß, was er meint. Maximaler Spaß. Ablenkung. Bestätigung. Abenteuer. Romanzen, die doch wieder in Beziehungen führen. Warme Nächte … Rausch.
Nein Danke. Ich lasse aus. ICH MACHE NUR NOCH GEGENTEIL.
>>Außerdem können sie ihrem Nervensystem eh nicht sagen, es ist aber Sommer!!<<, lacht meine Therapeutin und holt mich aus meinen Gedanken heraus.
>>Aber sie sind schon so viele Schritte weiter!<<
>>Ich weiß<<, sage ich.
>>Sie werten sich heute gar nicht selbst ab<<, stellt sie überrascht fest, klingt dabei stolz.
>>Wird ja auch Zeit!<<, erwidere ich.
>>Oh, jetzt wieder preußisch! Jetzt genießen sie mal ihren Wachstum und treffen ihre Freundin.
Wir kommen zum Ende. Passt es für sie so, oder ist noch etwas offen?<<
Ich überlege. >>Können Diego und ich Freunde werden?
Und ist jetzt der richtige Zeitpunkt für ein Hund? :) <<
Sie überlegt. >>Fokussieren Sie sich auf sich. Jetzt steht ihnen alles offen.
Diego hat ihnen ein Geschenk gemacht. Sie sich selbst!<< und sie hat Recht.
Dann treffe ich Alena und Laura im Lokal Grannys (Noka Korea Berlin). Empfehlung! Zu jedem Reiswein gibt es einen Eierkuchen.
Alena schaut mir in die Augen und da ist kein Schleier mehr.
>>Gehen wir Sonntag rein?<<
>>Ja, wir gehen rein!<<
>>Du bist wirklich back! Zurück aus der depri Hölle!<<, verkündet sie erleichtert -
und auch sie hat Recht.
RIP DIEGO 2009-2024
You will always walk alone
Man wird selten von Dingen berührt, die ohne Ende sind. Wir legten uns in die Zeitlosigkeit eines anderen, als könnten wir uns selbst verlassen. Sie zog den Mantel von den Dingen und die Welt war eine offene Wunde und ein offenes Entzücken, eine Erleichterung über das Privileg, noch dabei zu sein und im Vergehen seinen höchsten Tiefgang zu erlangen.
(Alles in allem)